Die Lottokönige

 

23.59 Uhr. Nur in einer Wohnung am Lärchenweg 13 brennt noch Licht. Alle anderen Wohnungen sind in Dunkelheit gehüllt.

Käthe und Hans sitzen seit 22.30 Uhr wie versteinert auf der grauen Cordcouch.

 

Langsam, ganz langsam tauen sie auf, verinnerlichen, was sie gerade in den Spätnachrichten vernommen hatten.

Hans hat schweißnasse Hände, sein kariertes, einfaches Hemd hat er geöffnet. Verschämt legt sich der abgestoßene Hemdkragen um seinen Hals. Sein Fünftagebart schabt an der Baumwolle.

Käthe streicht immer wieder die geblümte Kittelschürze glatt. Ihre Bewegungen sind fahrig.

 

Wie lange schon haben sie auf einen Moment wie diesen gewartet. Woche für Woche ein neuer Versuch – ohne Erfolg. Und jetzt? Richtiggehend erschlagen fühlen sie sich von der Situation, die sie erhofft, erträumt hatten.

Endlich stehen ihnen alle Möglichkeiten offen. Aber was ist, wenn sie ihre Wünsche tatsächlich umsetzen?

Das Wohnzimmer mit der verrauchten Leinentapete von anno dazumal neu tapezieren lassen, sich wirklich ein Auto kaufen, in den Urlaub fahren, sich neue, schöne Kleidung leisten.

Oder – ein Haus … sogar ein Haus wäre drin!

Sofort würde bekannt werden, dass sich an ihrer finanziellen Situation etwas geändert hat. Dafür kennen sich die Bewohner von Lärche 13 zu gut, sind sich zu nah. Würde Neid aufkommen? Würde man sie noch genauso mögen wie bisher?

Oder plötzlich sogar mehr?

Hans und Käthe blicken sich verzweifelt an.

1,6 Millionen!!!

Käthe schaltet den Fernsehapparat aus. Der Krimi ist an ihnen vorübergeschwappt. Was ist das auch gegen den Hauptgewinn im Samstagslotto!

Hans wird unruhig. Der Lottoschein. Wo ist der Schein? Er steht mit zittrigen Beinen auf, geht ins Schlafzimmer. Er öffnet die zweite Schublade in der alten Kommode, in der sie ihre Kostbarkeiten versteckt haben. Die Brosche mit dem Smaragd von Käthes Großmutter, die guten Manschettenknöpfe von seinem Vater. Nie getragen. Ohne schicke Bluse und Oberhemd macht beides keinen Sinn.

Das Sparbuch. Schon seit Jahren haben sie kein Geld mehr eingezahlt. Das Guthaben dümpelt zwischen 350 und 500 Euro. Käthes Putzjob wirft nicht viel ab und sein Gehalt ist seit Jahren nicht angehoben worden.

Hans wühlt sich weiter durch die Schublade. Da liegt er. Im schwarzen Mäppchen – wie jede Woche. Abgestempelt von der Lottofiliale in der Innenstadt.

Mit weichen Knien nimmt er ihn aus der Umhüllung. Er hat Hemmungen, den Schein zu berühren. Die Neuigkeit muss erst einmal sacken.

Käthe hat sich neben ihn geschlichen, betrachtet das Los ehrfurchtsvoll. Sie sehen sich beide ängstlich in die Augen, nicht wissend, was auf sie zukommt.

Tatsächlich das Glück? Sie sind nicht reich.

Aber unglücklich?

Nein!

Nach einem Blick auf die Uhr gehen sie Hand in Hand ins Bad und richten sich für die nur noch kurze Nacht. In den nächsten Stunden spielt jeder dem Partner einen gesunden Schlaf vor.

In den frühen Morgenstunden werden sie vom Gesang der Drosseln geweckt. Müde Augen erzählen von den Gedanken der Nacht.

Beim gemeinsamen Frühstück druckst Hans rum.

„Käthe, ich habe nachgedacht in den letzten Stunden. Ich möchte unsere Hausgemeinschaft nicht missen. Die Nachbarn sind unsere Freunde, fast so etwas wie Familie. Ich kann mir nicht vorstellen, hier wegzugehen, auch wenn wir dann ein großes Haus haben, uns kleiden können wie Königskinder.“

Käthe atmet erleichtert auf.

„Ach Hans, ich bin so froh, dass du aussprichst, was auch mich die halbe Nacht bewegt hat.

Was hältst du davon, wenn wir uns an der See eine schöne Eigentumswohnung kaufen, nicht zu groß. Und dann würden wir gelegentlich ein langes Wochenende und unseren Urlaub dort verbringen. Die Luft genießen und eintauchen in eine andere Welt. Ich weiß nur noch nicht, wie wir das Bärbel und Fritz, den Meiers, Klaus und Gabi und den anderen erklären?“

Hans lächelt verschmitzt. „Vielleicht versuchen wir es mit der halben Wahrheit. Wir könnten die Wohnung geerbt haben!“

Käthes große braune Augen werden kugelrund, als sie ihre Brauen nach oben zieht.

„Hans!“ verlässt empört ihre Lippen.

Hans beeilt sich, Käthe den Rest seiner Idee vorzutragen.

„Warum sollen wir nicht alle die Möglichkeit haben, Wochenenden an der See zu verbringen?

Ich würde unseren Freunden gerne ein Stück vom Kuchen abgeben, liebe Käthe. Lass uns alles in Ruhe überlegen.

 

Denn nur wer redlich teilt mit seinen Nächsten, wird auf Dauer glücklich leben."