Zug nach Irgendwo

 

Die Luft vibrierte. Der Zug auf den Gleisen ebenfalls. Alexander hatte ihn ohne Hektik erreicht.

Er hatte die letzte Zeit genossen. Sein Leben Revue passieren lassen. Die letzten Jahre im Seniorenzentrum waren gut gewesen, so wie sie eben waren. Nichts Spektakuläres mehr. Nette Zimmernachbarn, Sitztanzgruppe und BINGO-Spiele. Aber mehr wollte er auch gar nicht. Er hatte

sein Leben gelebt. Manchmal fühlte er sich wie ein zerfallendes Haus, wo der Lack von den hölzernen Fensterrahmen absprang und das Mauerwerk abplatzte. Er wusste, dass darunter keine rosig frische

Haut mehr zum Vorschein kam.

Schwierigkeiten machten ihm die Beine, die dicke Krampfadern zierten, wie Graffiti das alte Haus

gegenüber. Wassereinlagerungen machten ihm das Laufen problematisch. Manchmal hatte er das Gefühl,

das Wasser stieg an und sein Herz würde darin ertrinken. Aber immer wieder hatte man ihn

'auf die Beine' bekommen, im Krankenhaus nebenan.

Manche Zeiten waren von Angst geprägt, vor allem bei seinen Kindern, die ihn gelegentlich besuchten.

Nicht so oft. Es waren schließlich einige hundert Kilometer, die sie voneinander trennten, weil er in

seiner alten Heimat Iserlohn bleiben wollte. Mehrfach hatten sie ihm angeboten, zu ihnen nach Frankfurt

zu ziehen. In eine schöne Seniorenresidenz. Aber was sollte er da? Er wollte den Blick ins Grüne, in seine Wälder und über seine Stadt. Da ließ er nicht mit sich diskutieren. Heimat war das, wofür sein Herz

schlug. Und das war Iserlohn.

Wenn sein Gesundheitszustand es hergab, machte er kleine Spaziergänge in seinen Wald. Oder schaute

von der kleinen Brücke aus in die Hinterhöfe der alten Iserlohner Häuser. Überlegte, wer da wohnte und

was für Geschichten die Menschen erzählten.

Ihm selber hörten nicht mehr viele Leute zu. Aber Alexander hatte auch kein Interesse mehr daran, zu

reden. Jetzt, wo sein eigenes Leben zu Ende ging, fühlte er sich wohler ohne gesprochene Worte. Er nahm

lieber auf, was in seiner Umgebung passierte.

Manchmal hatte er sogar das Gefühl, als wollten ihm die Häuser etwas mitteilen. Dann nahm er sich

die Zeit, um zuzuhören. Wenn ihm nach der Gesellschaft von Menschen war, ging er dem Duft von Kaffee und frisch gebackenen Brötchen nach und landete in der Bäckerei des Bahnhofs. Die hatte nicht wirklich

viel Charme, aber er konnte so schön seinen Gedanken nachhängen. Er beobachtete die Personen an den Gleisen. Kleine Kinder. Wo wollten sie hin mit ihren Eltern? Er freute sich über die unverfälschte Begeisterung, die er von den Kinderaugen ablesen konnte. Dann waren da noch die, die sich immer am

Bahnhof aufhielten. Keinen richtigen Platz in der Gesellschaft hatten. Vom Leben müde waren, obwohl sie kaum 30 sein konnten. Alexander schüttelte nachdenklich den Kopf.

Und dann die Berufspendler, die sich glücklich schätzen konnten eine Arbeit zu haben, dafür aber

eine lange Fahrtzeit auf sich nehmen mussten. Jeden Tag geduldig auf den Zug warteten und die Reisezeit einfach als gegeben hinnahmen.

Reisezeit. Das war ein gutes  Stichwort. Seine Reisezeit. Oder letzte Reise. Alexander sah ihr

entspannt entgegen. Er war müde geworden in den letzten Jahren.

Wusste nicht, ob ihn weitere Jahre – belastet von Krankheiten - nicht zu sehr deprimieren würden.

Der Schaffner schloss die Türen. Alexander setzte sich in ein leeres Sechser-Abteil, nahm den Platz am

Fenster. Das Signal ertönte. Langsam und mit quietschenden Rädern setzte sich der Zug in Bewegung.

Die Landschaft, die er so geliebt hatte, schwamm an ihm vorbei. War es richtig, was er tat?

Mit der von Altersflecken gezeichneten Hand tastete er sich in seine rechte Manteltasche vor.

Seine Finger berührten die scharfkantige Verpackung der Tabletten, die er schon seit mehreren Wochen mit sich trug. Jetzt würde er Iserlohn doch verlassen.

 

Irgendwie.

Seine Seele.

 

Aber sein Herz würde immer hier bleiben. 

 

 

Lesung "Aus der Werkstatt" - Literaturcafé am Eckbusch, Wuppertal